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Glockenunken

Hallo Allerseits!

Dies ist die Geschichte der letzten Reise meiner Großmutter Irmhild, uns Kindern besser bekannt als "Oma Lübeck".

Oma Lübeck verstarb am 7.8.2008 in Bergedorf im Beisein meiner Mutter und meiner Tante. Sie hatte ein bemerkenswert ereignisreiches Leben, eine kriegsbedingt viel zu kurze Ehe aber dennoch 4 Kinder, von denen 3 heute noch am Leben sind.

Sie war die letzte ihrer Art, denn ihr Mann fiel 1944 und die Eltern meines Vaters sind beide schon seit über 10 Jahren tot.

Sundwig

Oma Lübeck wuchs in Sundwig auf, einem kleinen Örtchen bei Hemer. Sundwig? Das liegt bei Dortmund und Unna um die Ecke.

Von Sundwig hatte sie oft erzählt, insbesondere in den letzten Wochen ihres Lebens, als die alten Erinnerungen nach und nach freigelegt wurden, während die neueren eine nach der anderen aus ihrem Gedächtnis entschwanden.

Sie wollte gerne einmal mit der ganzen Familie nach Sundwig fahren, zu einem der Familientage, die ein (aus meiner Sicht) entfernter Teil der Familie dort unregelmäßig veranstaltet, aber geworden ist daraus nie etwas, bzw. immer nur teilweise.

Nach dem Tod meiner Oma entwickelte sich dann recht schnell die Idee, die Reise doch noch zu machen, und am Ende fuhren wir zu zwölft mit einem Kleinbus und einem Auto gemeinsam von Hamburg nach Sundwig. Mit der Urne im Kofferraum natürlich, schließlich wollte Oma Lübeck ja mit uns nach Sundwig fahren.

Nach Sundwig mit Oma - rechts hinten

Kleinbus

Warum der Kleinbus, fragt Ihr Euch?

Wenn man plant, 4 bis 5 Stunden mit dem Auto zu fahren und dabei ein Kind, ein Kleinkind und ein Baby mitzunehmen, dann sollte man tunlichst dafür sorgen, daß sich die Kleinen auf der Fahrt nicht langweilen, und daß von den Großen keiner komplett durchdreht.

Am besten geht das, indem man die Kinder sich selber überlässt und das Baby so hinsetzt, daß mindestens zwei Große abwechselnd ihre Köpfe hinstecken und "Dutzi!" sagen können. Sowas geht am einfachsten in einem Kleinbus, keine Frage.

Souad und ich sind besonders vorbelastet, seit wir mal mit Lilia nach Paris gefahren sind, als sie 3 Monate alt war. Das war damals anfangs ok, auf den letzten 200km allerdings mussten wir alle 20 Minuten anhalten und das Kind beruhigen. Nennt mich Ökosau, aber seitdem fliege ich lieber mit Kind.

Die Idee mit dem Kleinbus funktioniert. Irma und Lilia amüsieren sich fast die ganze Fahrt prächtig und Ines schläft meist und freut sich ansonsten über die viele Aufmerksamkeit, die sie sonst im Auto wohl vermißt.

Vor Ort

Der Waldfriedhof in Sundwig ist so schön, wie ein Friedhof meiner Meinung nach sein sollte: Viele Bäume, alles leicht verwildert, nicht zu groß, unübersichtlich. Kann man einen Friedhof gemütlich nennen?

Wir verabschieden uns jeder auf seine Art von Oma Lübeck und machen uns Gedanken darüber, ob ihr ihre letzte Reise wohl gefallen hätte.

Nach der Beerdigung besuchen wir kurz das Haus, in dem Oma Lübeck in Sundwig gewohnt hatte, dann fahren wir zum Literaturhotel in Iserlohn. Das ist ein Hotel voller Bücher, augenscheinlich für Freunde des Lesens gemacht. Die Zimmer sind angenehm und geradezu riesig verglichen mit Englandstandard.

Die beiden Mädchen fühlen sich auf Anhieb pudelwohl und verbringen den Abend damit, zwischen Speisesaal, Bar, Zimmer und Lesebereich rumzurennen. Lilia ist wie üblich nicht totzukriegen und turnt auch um 1 Uhr morgens noch in der Bar rum, lange nachdem die beiden einzigen anderen Gäste bereits zu Bett gegangen sind.

Lilia auf dem Waldfriedhof in Sundwig

Die Bar hilft, insbesondere wenn man emotional aufgeladen ist und das kommunizieren will. Wir sind in unserer Familie sicher nicht die größten, wenn es um Kommunikation geht, aber der Abend in der Bar bringt uns doch alle soweit, daß wir uns wohlgesonnen des Tages erinnern. Die Grundstimmung ist, daß Oma Lübeck mit ihrem Begräbnis und ihrer letzten Reise zufrieden gewesen wäre.

Das Erbe haben wir fast komplett für Begräbnis, Übernachtung, Reise und Verpflegung ausgegeben. Ich finde, das ist eine hervorragende Idee. Eine Beerdigung ist ein wichtiges Ereignis in einer Familie, insbesondere wenn die Familie "geographically challenged" ist, also weit verstreut in der Welt lebt und sich sonst nicht sieht.

Am nächsten Tag bewährt sich der Bus noch einmal, diesmal im Stau auf dem Weg nach Hause. Wenn ich mal groß bin, will ich auch einen.

Nachruf

Eine Woche nach unserer Rückkehr nach Manchester poppt auf meinem Computer eine altbekannte Erinnerung hoch: "Omi anrufen". Alle drei Monate hatte ich eingestellt... Ich lösche den Eintrag und denke an meine letzte Begegnung mit ihr ein paar Wochen vor ihrem Tod. Hat sie sich wohl daran erinnert, daß ich da war und ihr Ines gezeigt habe, ihr viertes Enkelkind? Hat sie Ines überhaupt wahrgenommen? Oder war sie vollauf damit beschäftigt, sich an mich, Souad und vielleicht Lilia zu erinnern? War kein Platz mehr für neue Gesichter und Namen? Werden wir nie wissen.

Ich glaube nicht an Seele oder Leben nach dem Tod. Meine technisch angehauchte Sicht auf die Funktionsweise unseres Hirns favorisiert die Erklärung, daß aus Komplexität immer ein gewisses Maß an Freiheitsgraden entsteht, daß unser Gehirn quasi "in seiner Freizeit" nachdenkt. Was darüber hinaus geht, ist also irrelevant und daher nach Occam's Razor unwahrscheinlich.

Was ist also von Oma Lübeck geblieben? Ihre drei Kinder haben jedes auf seine Art interessante Familien begründet und das ist mehr als man von vielen Leuten sagen kann. Wird sich in 100 Jahren jemand an sie erinnern? Vermutlich nicht. Das ist mir aber auch vollkommen egal, wenn ich ehrlich sein soll. Ich jedenfalls erinnere mich. Gerne.

Cheerio,
Jan

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