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Zuhause in Frankreich?

Salut tout le monde!

Gestern Abend ist mir kurz vor dem Einschlafen noch ein Gedanke gekommen, den ich aus irgendeinem Grunde vorher noch nie gehabt hatte: Wie lange dauert es wohl, bis man sich in seiner Wahlheimat im Ausland wirklich zuhause fühlt?

Herbst

Anlaß war der plötzliche Kälteeinbruch, der gestern über uns kam und heute morgen mein Auto fast nicht anspringen lassen wollte.

Ich mag den Geruch der Luft gerne, wenn es kalt ist, und irgendwie hatte ich plötzlich Heimweh nach einem schönen, kalten, sonnigen Herbsttag in Hamburg, mit tief stehender Sonne, die man nur schwach durch kahle Äste erahnen kann, dampfendem Atem, der einem die Brille beschlagen läßt, und mit Laub, das überall rumliegt und faulenzend darauf wartet, von einer Harke aufgetürmt oder von einem städtischen Sauglaster weggesaugt zu werden. Hach, schön...

Als ich 1990 nach Karlsruhe wechselte, war das im Oktober, und es war vielleicht noch schöner als in Hamburg, einfach weil es seltener regnet und die Sonne öfter scheint. Daher kommt es wohl, daß auch meine Erinnerungen an den Herbst in Karlsruhe durchweg schön sind, besonders den Campus mag ich im Herbst sehr gerne.

Was den Herbst an der Côte d'Azur angeht, kann ich irgendwie noch nicht so genau sagen, wie er mich stimmt. Ich glaube, ich kann mich noch nicht so richtig damit identifizieren. Vielleicht fehlt noch ein Schlüsselerlebnis, oder vielleicht ist es einfach eine Frage der Zeit.

Die Boule vom Plateau aus gesehen.

Fragen!

Zu diesen Gedanken gesellte sich gestern Abend noch ein ganz unterschwelliges Gefühl: Wieso liege ich in meinem Bett in Südfrankreich und nicht in Norddeutschland, wo es doch da viel schöner ist? Was mache ich hier eigentlich?

Woran erkennt man wohl, daß man sich an einem neuen Ort integriert hat? Und woher weiß ich, daß es bei mir mit Sicherheit noch nicht soweit ist?

Antworten?

Ein paar Dinge sind mir gestern Abend gleich eingefallen, die man als 'Meilensteine auf dem Weg zur Integration' bezeichnen könnte:

Soweit erstmal zu den Meilensteinen. Ich bin sicher, daß ein paar wichtige fehlen und vermutlich tausende von Kleinigkeiten, die im Ganzen dann das 'Zuhausegefühl' vermitteln.

Liegt's denn am Ausland?

Gute Frage. Ich vermute, das spielt eine Rolle. In Karlsruhe habe ich mich nach einiger Zeit eher zuhause gefühlt als hier, allerdings war ich da ja auch viel länger, ich müßte mir also überlegen, wie ich mich so um 1993, 1994 herum in Karlsruhe gefühlt habe.

Man kann an guten Tagen vom CICA aus Korsika sehen!

Tja... 1993... das war das Jahr, in dem ich mein Vordiplom gemacht habe und dann sofort nach Hamburg zurückgegangen bin, um dort weiter zu studieren. Kein gutes Beispiel also, oder vielleicht doch, denn letztendlich bin ich ja nach ein paar Monaten wieder nach Karlsruhe zurückgekehrt.

Ich glaube, ich war damals froh, wieder unten zu sein, aber vielleicht sollte ich mit meinem schlechten Gedächtnis mal ein paar andere Leute fragen, wie sie das in Erinnerung haben...

Als ich mich dann irgendwann in Karlsruhe zuhause gefühlt habe, lag das wahrscheinlich sowieso an ganz anderen Dingen. Ich war damals genau so planlos wie heute was meine Zukunft angeht, aber ich war mit einer tollen Frau zusammen, und das macht eigentlich alles wett. Naja, fast alles jedenfalls.

Also liegt's vielleicht doch mehr an den persönlichen Umständen? Wer weiß...

Was sagen die anderen Ausländer dazu?

Gerade beim Essen mal Cristina gefragt, wie sie das sieht. Sie meint, sie fühlt sich hier zuhause. Sie hat ihre Wohnung, ihre Arbeit und ihre Freunde. Sie ist in zwei Sportvereinen und kennt ihren Bäcker, die Leute in mindestens einem Restaurant und in diversen Läden. Sie nimmt ihr tägliches Leben als Routine wahr.

Auf die Frage, ob Entscheidungen des Herrn Chirac sie persönlich betreffen würden, oder ob sie den Eindruck hätte, Chirac wäre ihr Landeschef, sagt sie aber dann auch nein, genau wie ich.

Wir sind uns einig, daß uns Entscheidungen des Europaparlaments oder andere Dinge, die auf europäischer Ebene passieren, mehr angehen als die Tagesgeschäfte unserer jeweiligen Regierungen.

Was die Routine im täglichen Leben angeht, ist das bei mir ähnlich, aber nicht ganz. Ich freue mich immer noch jeden Abend über die tolle Aussicht auf die Berge und die Farben der Landschaft beim Sonnenuntergang.

Ansonsten hat sie natürlich Recht; wenn man ein paar Monate lang jeden Morgen die gleiche Strecke zur Arbeit gefahren ist, geht sie einem ins Rückenmark über und das Auto fährt sie praktisch automatisch. Kann man da aber schon von 'zuhause fühlen' sprechen?

Mit Alain in Antibes auf der Suche nach guten Motiven für Nachtaufnahmen

Von den Ausländern, die bei Eurécom ihren Doktor machen, sind nicht besonders viele daran interessiert, danach hier in der Gegend zu bleiben, die brauche ich also gar nicht erst zu fragen.

Eric, mein französischer Kollege, kommt eigentlich aus der Camargue, wohnt aber schon seit 5 Jahren an der Côte d'Azur. Auf die Frage, ob er sich hier zuhause fühle, sagt er 'Schwer zu sagen' und seufzt. Dann erklärt er, man sei mit seinem Geburtsort verbunden und wiederholt nochmal, daß diese Frage sehr schwierig sei.

Hm... bleibt nur noch Dairine, aber die hat verkündet, nach dem Ende von e-acute erstmal nach London zu gehen. Sie sagt zwar, daß sie danach wieder herkommt, aber wer weiß sowas schon. Zum Thema 'zuhause fühlen' kann ich sie jedenfalls nicht befragen: Sie weilt gerade auf Korsika, wo sie sich vermutlich ordentlich den Kahn zulötet.

Umfrage

Also muß eine Umfrage her! Jau, gute Idee! Mal sehen, wen könnte ich denn mal befragen... schnell eine Liste zusammengestellt und ein paar Fragen verschickt. Jetzt noch ein paar Tage auf die (vermutlich spärlichen) Rückläufe warten und schon wissen wir wieder mehr!

Die Fragen spiegeln so ziemlich das wider, was ich mir bisher überlegt habe, sollten also ganz gut darstellen, ob ich irgendwie einen an der Waffel habe oder nicht.

Nach vier Tagen und immerhin 7 Antworten kristallisiert sich folgendes Bild heraus:

Die folgenden Statistiktörtchen beinhalten auch meine Antworten, z.B. die 13% Nein zur Frage, ob ich mich zuhause fühle.

Ergebnisse: Fühle mich zuhause

Ergebnisse: Bin Teil der Gesellschaft

Tja, was kann ich daraus wohl schließen? Vielleicht daß ich mir über die falschen Indikatoren Gedanken mache? Oder daß das Gefühl vielleicht ein sehr persönliches ist, dem man nicht mit Indikatoren zu Leibe rücken kann?

Jedenfalls bin ich der einzige, der sich nicht zuhause fühlt. Das mag daran liegen, daß die Frage vielleicht nicht so gut gestellt war, wie sie es hätte sein können. Oder vielleicht übertreibe ich da. Das wäre gut möglich, denn wenn ich ehrlich sein soll, würde ich in KA und HH wohl zum gleichen Ergebnis kommen.

Nirgends zuhause?

Meine Mitbewohnerin Laura stellt sich die Frage eher so: Wenn ich jetzt von hier weggehen würde, würde es mir fehlen? Und antworten tut sie auch gleich selbst: 'Nein, ich glaube nicht.' Dann fragt sie, welcher Ort in ihrem Leben so gut sei, daß sie sich da vollends wohlfühlen würde, und sie findet keinen. Nirgends zuhause? Ist das die Lösung?

Laura ist quasi dreiländig. Ihre Mutter ist Niederländerin, ihr Vater Italiener, sie selber wird von ihren Freunden eindeutig als Französin eingeschätzt. Aber auch sie fühlt sich von politischen Entscheidungen nur wenig betroffen. Immerhin hat sie schonmal hier gewählt!

Will sie denn hierbleiben? 'Nein.' In Frankreich? 'Nein.'

Sie meint, sie habe kein Problem damit, nicht viel über die Interna Frankreichs zu wissen. Wenn man sie nach den Niederlanden befragt, ist das anders, da ist es ihr unangenehm, wenn sie etwas nicht weiß. So gesehen ist sie wohl doch eher Niederländerin als Französin...

Vielleicht sind wir eher Europäer.

Obwohl ich ihre Einschätzung für zu pessimistisch halte, denn letztendlich würde das ja bedeuten, daß man sich quasi den 'Rückweg' freiwillig verbaut, wenn man probiert, sich anderswo einzuleben... Nee, oder? Das wär' ja doof!

Oder ist es gar nicht schlimm, keine Heimat zu haben im herkömmlichen Sinne? Die positive Seite der Geschichte ist ja, daß ich von mindestens drei Orten in Europa sagen kann, daß ich dort leben kann und mich wohlfühlen! Und einer dieser Orte liegt in einem ganz anderen Kulturkreis. Damit bin ich einen gewaltigen Schritt weiter als Leute, die vor dem Ausland Angst haben, und ich kann vorsichtig extrapolieren, daß ich mich anderswo auch wohlfühlen könnte. Das finde ich beruhigend.

Schon Ende September ist in Antibes nachts nichts mehr los.

In einem Punkt hat Laura Recht: Keiner der Orte, an die ich mich im Guten erinnere, reicht mir als einziger Ort aus. Hamburg im Oktober ist z.B. sehr schön, aber im Sommer ist es mir hier in Frankreich eindeutig lieber, oder vielleicht in Karlsruhe.

Da aber nunmal gerade Herbst ist, und mir dazu zur Zeit am ehesten Hamburg einfällt, mache ich mir eben solche Gedanken, und damit sind wir wieder am Anfang der Geschichte, freuen uns über die undurchsichtigen Wege des Schicksals, gehen in die Küche und setzen Wasser auf für den schönen, heißen Tee, den wir gleich trinken werden, während wir uns Gedanken machen über die Welt draußen vor dem Fenster und das Leben an sich...

Schönen Herbstnachmittag noch!
So long,
Jan

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