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Tag der Arbeit

Morgen!

Das Alter...

Mir ist mal wieder etwas aufgefallen, das ich als "Sympton des Älterwerdens" einordnen würde: Der Sonntag ist schön!

Ich habe den Eindruck, in meiner letzten Lebensphase sei das anders gewesen, nämlich während des Studiums in Karlsruhe. Da war der Sonntag hauptsächlich ärgerlich, weil man nichts einkaufen konnte.

Heutzutage ist der Sonntag ruhig, entspannt und friedlich. Man macht schöne Sachen wie z.B. bei Arnd und Carine um 12 Uhr Waffeln zum Frühstück essen, und abends geht man relativ früh in's Bett und freut sich auch noch darüber.

Jetzt fragt mich aber nicht, ob es an Frankreich und seinen generell viel entspannteren Wochenenden liegt, oder nur am Alter... das weiß ich nicht. Ist aber auch egal: Setzt Euch einfach am Sonntag in die Sonne und lest "Das Herz ist eine miese Gegend" von Thommie Bayer, denn dafür ist der Sonntag da.

Oha!

Ihr habt ja sicher alle von den Reaktionen auf die erste Runde der Präsidentschaftswahlen hier gehört, die hauptsächlich "Oh Gott!", "Schock", "Wir müssen Bollwerk machen" lauteten, bzw. "Hihihi" auf der anderen Seite.

Ich kann mir vorstellen, daß das bei Euch in Deutschland einigermaßen verwirrt ankommt, aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was am Abend nach der Wahl im hiesigen Fernsehen abging: Le Pen erschien schon direkt um kurz nach 8 und rief dazu auf, diesen Traum voll auszuleben, seine Parteikollegen saßen breit grinsend in den Fernsehstudios und legten genüßlich den Finger in die Wunde. Die meisten Reporter aus den Regionen leierten geschockt die Ergebnisse runter, in denen immer Le Pen an zweiter Stelle vorkam, manchmal auch an dritter und recht oft sogar an erster Stelle. Chirac wartete darauf, daß Jospin sich äußere, dieser erschien dann irgendwann vor seinen Anhängern und verkündetete, er werde sich nach der Wahl aus der Politik verabschieden, woraufhin der Saal in einen Schmerzensschrei ausbrach (aber wirklich!). Dann kam ganz spät Chirac und rief die Franzosen dazu auf, geschlossen hinter der Demokratie zu stehen.

Während der ganzen Zeit ging es in der Wahlsendung im Zweiten hoch her, alle redeten noch mehr durcheinander als sonst, manche wurden laut, die Moderatoren hatten irgendwann keinen Elan mehr, die Vertreter der FN zu unterbrechen, wenn sie besonders dreisten Scheiß erzählten, die gesamten linken Kandidaten und Anhänger waren frustriert, und die beliebteste Frage der Moderatoren an die Linken war: "Werden Sie am 5. Mai für Chirac stimmen?"

So blau ist Himmel hier zwar fast immer, auf Dias allerdings nur mit dem entsprechenden Film.

Am 5. Mai für Chirac?

Einige der Kandidaten taten sich sehr schwer mit der Antwort, eigentlich gab es nur einen, der wirklich eindeutig "Natürlich wähle ich Chirac!" gesagt hat, die anderen guckten zerknirscht und murmelten was von "Gegen Le Pen Bollwerk machen" und auf Nachfrage "Ich habe mich doch wohl klar ausgedrückt!". Das muß denen wirklich wehtun... Jospin hat dazu übrigens überhaupt nichts gesagt.

Das ist die typische Reaktion hier: Es ist den Franzosen sehr unangenehm, sie sagen was von Auswandern und werden sich wahrscheinlich am 5. Mai die Lippen zerbeißen und trotzdem Chirac wählen gehen. Man stelle sich vor, man habe die Wahl zwischen Stoiber und Frey...

Ein Bekannter, der gerade seinen Doktor bei Eurécom macht, hat sogar ein Flugticket bestellt, um am kommenden Sonntag zu seinen Eltern zu fliegen und dort zu wählen (Briefwahl gibt es in Frankreich nicht). Er findet es auch überhaupt nicht witzig, daß er das noch nie für eine Wahl getan hat und nun ausgerechnet für Chirac tun wird.

Die traditionellen Kundgebungen zum 1. Mai werden dieses Jahr für die Franzosen wohl das, was für uns die Lichterketten sind. Ich weiß noch nicht so genau, ob ich hingehen soll, denn eigentlich bin ich ja weder Wähler noch Zielgruppe, aber andererseits dienen diese Demos ja auch dazu, das Image Frankreichs in der Welt wieder etwas zu bessern.

Falls ich am 1.5. mitgehe zur Demo, werde ich wohl ein Schild mit der Aufschrift "Nicht demonstrieren, wählen!" mitnehmen.

Im Fernsehen gab es bereits eine Stunde nach der Wahl die erste Schätzung für die zweite Runde zu sehen, derzufolge Chirac etwa 80% der Stimmen erhalten wird. Kann man nur hoffen, daß nicht die Hälfte der 80% zuhause bleiben, weil sie denken, ihre Stimme sei ja eh nicht nötig. Genau dieser Gedanke treibt vermutlich die gesamte französische Linke dazu, am 5. Mai für ein Rekordergebnis für Chirac zu sorgen. Schon fies, oder? Die fiesere Vorstellung ist aber ganz klar die, in der Le Pen Präsident wird.

Naja, wahrscheinlich wird es am 5. Mai heißen: "Et encore une fois c'est Jaques Chirac!" (Zitat Herr Schmedje, Französischlehrer, irgendwann so um 1986)

Fragen über Fragen

Seit dem ersten Durchgang der Wahl geht es im Fernsehen nur noch um das eine Thema. Umfragen dürfen zwischen den zwei Wahlgängen nicht mehr gemacht werden, bzw. die Ergebnisse dürfen nicht veröffentlicht werden, aber es gibt umso mehr Sendungen über die Hintergründe.

Man erfährt zum Beispiel, daß Le Pen sich diesesmal ganz seriös gibt, wohingegen er in der Vergangenheit gerne mal ausfällig wurde, weswegen er auch schon mehrfach wegen Rassismus verurteilt wurde. Man erfährt, daß die Verantwortlichen schon relativ früh Bescheid wußten, weil die natürlich permanent die Umfrageleute angerufen haben. Chirac soll schon um 19 Uhr, also eine Stunde vor dem Ende der Wahl, gewußt haben, wie es ausgehen wird, ebenso Jospin, der es aber nicht wahr haben wollte und deswegen gewartet hat, bis es sicher war. Mittlerweile hat er übrigens dazu aufgerufen, "gegen den rechten Extremismus" zu wählen.

Grasse liegt unten im Schatten, bzw. rechts aus dem Bild heraus.

Sehr schön auch ein Bericht von gestern Abend über die PS, in der man einen Parteiangehörigen sehen und hören konnte, der seine Genossen zur Wahl gegen Le Pen aufrief. Gleichzeitig ist der Mann Kandidat im Wahlkreis, in dem auch Chirac "zuhause" ist, weswegen der Saal lachen mußte, als er sagte, die Wahl fiele im schwer, schwerer als mach anderem, und er habe nie geglaubt, daß er einmal einen Wahlschein mit dem Namen Chirac in eine Urne oder sonstwohin stecken würde. Ja, das hat er im Fernsehen gesagt.

Die Webseite der PS (Jospins ehemalige Partei, die Sozialisten) ruft gleich ganz oben an erster Stelle dazu auf, gegen Rechts zu wählen, die Webseite der RPR (Chiracs Partei) erklärt: "Chirac verteidigt die Republik". Die Webseite der FN erklärt mir, es sei meine patriotische Pflicht, im zweiten Wahlgang zu wählen. Dann erfahre ich, daß die Medien "wie in den schlimmsten Zeiten in der UdSSR" versuchten, die Wähler zu manipulieren, und ich darf lesen, daß das Internet ein gutes Medium sei, in dem ich doch bitte werben solle, aber immer schön korrekt bleiben.

Je chôme

Im Französischen gibt es das wundervolle Verb "chômer", das ich jetzt mal aus dramaturgisch-stylistischen Gründen mit "lungern" übersetzen möchte — Eigentlich heißt "chômer" eher "die Arbeit niederlegen", z.B. am 1. Mai oder während der Ferien, aber es heißt auch "keinen Job haben", logisch, schließlich ist "le chômage" ja "die Arbeitslosigkeit".. Man kann es dazu benutzen, andere Arbeitslose zu begrüßen: "Ça chôme?" — Eigentlich "Ça va?", "Wie geht's?". Man kann es auch analog zu "arbeiten" benutzen, wie z.B. in "Je chôme 4 jours par mois pour les impôts, mais le reste, je chôme pour moi." — Etwa "4 Tage im Monat lungere ich für die Steuer, den Rest lungere ich nur für mich.". Nett, oder?

Eine andere Facette der französischen Sprache ist das Anhängsel "-ment", das man vielleicht mit "-mäßig" vergleichen könnte, ebenfalls als Anhängsel. "vachement" heißt z.B. "kuhmäßig" und bedeutet "total", wie in "vachement bon" = "total gut". Das wißt ihr vielleicht schon, aber ich schreibe das ja auch nicht hin, um euch was beizubringen, sondern weil ich erklären will, daß man in Frankreich ziemlich häufig "complètement" sagt, und daß mir auch im Deutschen "komplettmäßig" eigentlich ganz gut gefällt, zumindest besser als das ordinäre "völlig".

Demo!

Von wegen. Karim hat seine Abschieds- und Geburtstagsparty sinnvollerweise auf den Abend vor der Demo gelegt. Die Party war nach kleineren Startproblemen ausgesprochen gut, und heute morgen um 8 hatte ich wirklich keinen Nerv, aus dem Bett zu kriechen, also kann ich euch leider nicht berichten, wie die Demo in Nice abgelaufen ist. Sorry.

Ich mache also stattdessen jetzt einen ruhigen Tag der Arbeit, räume später noch das Wohnzimmer auf und beende erstmal diesen Bericht.

Tschö,
Jan

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