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Algerien

Tach

Summertime Blues

Hachgott, was für ein Wetter... ups, das tropft, moment, ich schüttle mal eben... so, besser. Mach' bloß die Tür zu! Wohin soll ich denn den Schirm stellen...? Hm, ok. Ist die Heizung an?

Wie immer übertreibe ich maßlos. Heute zum Beispiel fand das traditionelle 'Drinks on us' im Garten des Pubs statt. Hyperion zahlt jeden letzten Freitag im Monat zwischen 5 und 7 alle Drinks für die Belegschaft. Diesmal konnten wir draußen sitzen, und es war sogar richtig schön blauer Himmel und das einzige wetterbezogene Problem waren die fünf Wespen, die auch Bier haben wollten.

Aber im großen und ganzen muß ich einfach sagen, daß ich mich um den Sommer betrogen habe.

Am Anfang, so gegen Ende Juni, fand' ich es noch witzig, wenn Souad bei jedem auch nur ansatzweise sonnigen Tag rätselte, ob jetzt wohl der Sommer anfange, aber mittlerweile warte ich selber darauf.

In Mittelmeerraum funktioniert das nämlich so: Im Winter ist es relativ kühl und windig, dann kommen zwei Monate mit wechselhaftem Wetter und ein paar satten Regengüssen. Eines Morgens wacht man dann auf, die Sonne scheint, es ist heiß. Dann weiß man, daß jetzt der Sommer da ist. Meistens passiert das im Juni, und bis Ende September wird der blaue Himmel nur sporadisch mal den einen oder anderen Tag von Regenschauern getrübt.

Blick über die Bucht von Algiers, rechts kann man die Ausmaße der Stadt erahnen. In der Mitte das wohl bestgelegene Fußballstadion der Welt!

Der Nachteil: Waldbrände. Wer nun sein Leben lang in so einem Klima gewohnt hat, kann schlecht nachvollziehen, daß Hamburger oder Mancunians die Entscheidung "Sommer?" immer dann treffen, wenn sie gleich nach draußen gehen wollen und daher die passende Kleidung auswählen müssen. Und daß sie einen sonnigen Tag viel intensiver erleben, denn es gibt nur so wenige davon!

Den eigentlichen Dämpfer habe ich mir selber verpaßt. Vorgestern gegen Abend lockte mich mein Gedächtnis in einen heimtückischen Hinterhalt: Ich fragte mich, wann genau wohl die Frösche dieses Jahr an die Zikaden übergeben hatten. Dann fiel mir auf, daß ich keine Zikaden hören konnte, und den eigentlichen Schlag brachte die Erkenntnis, daß ich dieses Jahr keinen einzigen Frosch hatte quaken hören. Wie frustrierend.

Seit dem Tag jedenfalls fehlt mir der Sommer. Gar nicht so unbedingt die Hitze oder die Sonne; was mir wirklich fehlt ist der blaue Himmel. Blauer Himmel wirkt einfach offen und groß über dem Kopf!

Algerien

Algerien liegt in Nordafrika, zwischen Tunesien im Osten, Marokko und Westafrika im Westen und Mali im Süden. Es ist das zweitgrößte Land auf dem afrikanischen Kontinent, der größte Teil ist aber Wüste, nur die Küstenregion im Norden ist angenehm bewohnbar. In der Wüste wird (wie sich das gehört) Öl gefördert.

Soviel zu den Fakten.

Aus vielen Filmen weiß man ja, wie es im Norden Afrikas aussieht: Die Städte bestehen alle aus weißen Häusern mit Flachdächern, auf denen die Wäsche aufgehängt wird. In der Mitte sieht man das Minarett der Moschee und aus einem schlechten Lautsprecher schallt die Stimme eines Muezzin. Dazwischen hört man entfernt eine Schießerei, und wenn man genau hinsieht, kann man einen Geheimagenten erahnen, der da hinten über die Dächer hechtet und von unfähigen Polizisten verfolgt wird.

Die Flughäfen in der Gegend sind ausnahmslos einfache Sandpisten, neben denen man einfach so wartet, bis ein passendes Flugzeug vor einem anhält, ganz so wie bei Busbahnhöfen. Ob man das passende Flugzeug dann wirklich nehmen will, hängt davon ab, ob es nur uralt und klapprig aussieht, oder uralt, klapprig und gefährlich. Man fragt sich ja eh immer, was eigentlich mit den Kisten passiert, die bei Lufthansa nicht mehr fliegen dürfen, weil sie nicht mehr über den TÜV gekommen sind.

Am Flughafen angekommen (nicht vergessen das Gepäck aufzufangen wenn es aus dem Flugzeug in den Sand geworfen wird! Sonst kommt sofort ein Rudel kleiner Jungs, schnappt sich den Koffer und will Bakschisch!) nimmt man ein Taxi. Kostet ja nichts, ha ha. Im Peugeot Kombi fährt man dann unter Palmen und über staubige Pisten, bis man an einem dieser weißen Häuser ankommt. Unterwegs sieht man jede Menge Männer mit Turbanen an der Straße lungern und eine oder zwei verschleierte Frauen mit Wasserkrügen auf dem Kopf und Baby unter dem Arm.

Hinter der weißen Mauer gelangt man in ein kühles, luftiges Haus mit schönem Innenhof. Überall blähen sich Vorhänge träge im Wind. An der Decke finden sich kunstvolle Muster. Auf dem hölzernen Sekretär liegt ein abgegriffener Koran mit einem großen Lesezeichen aus Kamelhaar. Von weit her hört man wieder den Muezzin und seinen schlechten Lautsprecher...

Karl May

Ich habe mal irgendwo gehört, daß Karl May erst 1908 im Wilden Westen gewesen sein soll, also lange nachdem er Winnetou und die anderen Bücher geschrieben hatte. Nach meinem Besuch in Algerien kann ich dazu nur sagen: Das war vielleicht auch gut so. Die oben beschriebene Welt im Film wird man zumindest in Algerien nicht antreffen.

Ich will nicht behaupten, Algerien sei scheiße oder so, aber es ist nach einem ziemlich langen und verdammt üblen Bürgerkrieg eben auch nicht so, wie man das aus einem Traumland erwartet. Anders gesagt: Wer was schönes sehen will, muß nach Tunesien oder Marokko fahren. Da gibt's die weißen Häuser mit den schönen Innenhöfen, die Basaare und Kamele, und die faltigen Einwohner mit Turbanen. Dafür gibt's da aber auch wahlweise Polizeistaat oder Monarchie, während Algerien das einzig überwiegend muslimische Land sein dürfte, in dem eine Demokratie mehr oder weniger funktioniert.

Algerien dürfte weltweit das Land sein, daß in seiner Geschichte am meisten unter islamistischem Terror gelitten hat. Nach dem Verbot der islamistischen FIS nach deren Wahlsieg 1992 mußte das Land fast 10 Jahre lang unter permanentem Terror leiden. Man schätzt, daß bei den Anschlägen, Kämpfen und Überfällen auf Dörfer über 100000 Menschen getötet wurden. Heutzutage hat die Armee die Lage teilweise im Griff, aber in die Berge z.B. traut sich trotzdem niemand. Und während die Angriffe der Terroristen früher religiös motiviert waren, geht es heute hauptsächlich um materielle Dinge oder schlicht um Bereicherung.

Könnte das Wahrzeichen Algeriens sein: Die schwarze Plastiktüte...

Nicht wirklich ein Urlaubsland, oder?

Mir egal, ich hab' da schließlich Familie!

Algerien

Die auffälligsten Dinge zuerst:

Eigentlich sind wir Europäer ja ganz kraß in der Minderheit, auch wenn man noch die anderen westlichen Industrienationen dazuzählt, also die USA. So gesehen ist der Anblick einer europäischen Straße komisch, nicht der einer algerischen. Wahrscheinlich kommen sich 90% der Menschheit auf einer beliebigen Straße in Deutschland (nennen wir sie einfach mal "Dorfstraße" oder "Hermann-Löns-Höhe" oder sonstwie) vor wie wir in "12 Uhr Mittags" vor dem Saloon...

Ich jedenfalls konnte gar nicht fassen, was die ganzen Leute auf der Straße alle machen! Wo wollen die alle hin? Was sitzen die da rum? Haben die keine Arbeit oder was? Geschätzte 30% haben tatsächlich keine Arbeit, aber das reicht nicht! Zumal die meisten Arbeitslosen unter 30 sind, und auf der Straße sieht man einen bunten Querschnitt durch alle Altersklassen.

Sicherheit am Flughafen Algiers: Jeder Passagier muß sein Gepäck identifizieren, bevor es an Bord geht...

Tja, wir wohnen in einem Industriestaat, viel gemütlicher aber auch irgendwie komisch: Sowas wie die "10000 Steps Challenge" auf den Cornflakes-Packungen gibt es in Algerien jedenfalls sicher nicht.

Der Norden Algeriens ist wie gesagt nicht Wüste, sondern relativ grün. Relativ, weil es natürlich nur so grün ist wie an der Côte d'Azur, nicht wie in Hamburg oder Manchester. Die Vegetation ist der um Nice herum wirklich ziemlich ähnlich. Und über allem liegt ein feiner Staubpelz.

Wenn man in Algerien die Fenster zum Lüften aufmacht, findet man hinterher überall Staub im Haus. Wenn man Früchte von Büschen oder Bäumen abpflückt, muß man sie entweder waschen oder heftigst abreiben, damit der Staub abgeht. Straßen sind nicht grau sondern sandfarben. Nur der Himmel und das Meer sind nicht grau.

Händler

Araber haben eine lange und erfolgreiche Tradition als Händler. Und obwohl die meisten Algerier (wie auch Marokkaner und Tunesier) mit den Arabern aus dem Mittleren Osten nicht viel gemeinsam haben, das mit dem Handeln hat sich gehalten.

Sicherheit am Flughafen Algiers: ...und dann geht man durch diesen Bus und wird nochmal durchsucht.

Wenn in Algerien ein Haus gebaut wird, fängt man mit dem Erdgeschoß an, und sobald das fertig ist, wird erstmal ein Geschäft darin eröffnet. Danach baut man gemächlich oben weiter. Wie schon erwähnt, ist ein Großteil des Landes Wüste, die Küstenregion ist daher relativ dicht besiedelt und man baut wie besessen. Das führt dazu, daß entlang der Straßen unzählige kleine Läden entstanden sind, die z.B. 5 Kopierer verkaufen, oder ein Dutzend gebrauchte Kühlschränke. Was diese Läden wohl tun, wenn die 5 Kopierer verkauft sind?

Algiers selber, die Hauptstadt, sieht übrigens aus wie Paris im Sommer. Ist ja auch kein Wunder, die Franzosen waren ja lange genug Kolonialmacht und Algiers war natürlich das Zentrum. Die meisten Bauwerke sind zur Zeit der französischen Besetzung gebaut worden.

Es gibt etwa 15 Milliarden Sprichwörter in Algerien, vielleicht mehr. Eines davon besagt, Algerien sei ein armer Reicher. Den 30% meist jungen Arbeitslosen steht ein ziemlich reicher Staat gegenüber, denn Algerien hat durchaus einiges zu verkaufen, hauptsächlich Öl, Gas und Oliven. Wo genau das Geld hingeht, scheint unklar zu sein, die Bevölkerung sieht davon jedenfalls nicht viel.

Eine der wenigen Gelegenheiten, bei der der Staat mal Geld verschenkt hat, war ein Gesetz, das jedem, der ein neues Auto kaufte, einen Teil des Geldes erläßt und für den Rest gute Konditionen für Kredite vorschrieb. Das führte dazu, daß erstens die Automobilbranche in Algerien zur Zeit in voller Blüte steht, und zweitens kaum noch alte Autos auf den Straßen herumfahren! Fast weniger als in Europa.

Schön, aber ...

10 Jahre Terror haben übrigens auch dazu geführt, daß den Algeriern heute vieles relativ schnuppe ist, was uns unangenehm auffällt. So lange man überlebt, sind einem die schwarzen Plastiktüten überall in der Natur erstmal egal. Kann man nachvollziehen. Schade ist es trotzdem, denn es nimmt dem eigentlich wirklich schönen Land viel von seinem Charme.

Ich bin sehr gespannt, wie sich Algerien in den nächsten 10 Jahren entwickeln wird. Zur Zeit würde ich nicht dort wohnen wollen, auch wenn jetzt wahrscheinlich ein guter Zeitpunnkt wäre, immerhin sieht es so aus, als stünde das Land am Anfang einer guten Periode und quasi direkt an der Schwelle zur Industrienation. Amerikaner und Franzosen sind beide bemüht, ihren Einfluß auszubauen bzw. nicht zu verlieren und kümmern sich darum, daß der Zustand stabil bleibt.

Mit einem für europäische Verhältnisse relativ kleinen Startkapital sollte man in der Lage sein, in Algerien ein kleines Vermögen zu machen. Auf der anderen Seite fühle ich mich nicht wirklich sicher dort, also muß das wohl noch ein wenig warten.

Zurück nach Europa

Nach unseren Ferien in Algerien ging's nach Gatwick, von dort nach Manchester, und am nächsten Morgen direkt wieder nach Gatwick und dann nach Porto zur Hochzeit von Cristina und Bernhard.

Der Blick vom Eingang der Kirche. Die Poussada in Guimaraes ist ein toller Ort für eine Hochzeit!

Die Hochzeit war hervorragend, hauptsächlich aus zwei Gründen:

  1. Wir wohnten mit einem Großteil der Gäste die Tage vorher und nachher in einem Haus, das uns alle entfernt an die Pitou erinnerte (inklusive Überschwemmung im Wohnzimmer und Stromausfall nach einem Unwetter). Und nicht nur das, es war auch nach langer Zeit mal wieder ein Treffen mit vielen der Leute, die ich in Frankreich gerne getroffen hatte.
  2. Die Hochzeit selber war klasse. Cristina und Bernhard hatten sich den abgefahrensten Ort aller Zeiten ausgesucht: Die Pousada Santa Maria in Guimaraes, ein ehemaliges Kloster auf halber Höhe am Berg über der Stadt. Heute ist die Pousada ein Hotel, nebendran ist die Kirche, man hat einen irren Blick und das Hotel ist mit Sicherheit eines der luxuriösesten, in dem ich je war. Und die Party hat dem ganzen das Tüpfelchen aufgesetzt, wirklich klasse.

Nach diesem äußerst angenehmen Ausflug nach Portugal ging's dann wieder zurück nach Manchester, wo ausnahmsweise mal die Sonne schien, allerdings nur etwa 3 Stunden lang. Der Sommer 2004 gilt jetzt schon als die große Enttäuschung. Insofern war ich froh, nur ein paar Tage später schon wieder nach Paris fliegen zu können, um an einer Konferenz im Disneyland teilzunehmen, bei der ich und meine Kollegen Penny und Alan sowie unsere Chef-Chefin Sharon den Support vertraten.

Bei der Konferenz im Disneyland Paris mit Penny, Sharon und Alan sowie zwei komischen Gestalten.

An dieser Stelle fällt mir auf, daß die Überschrift zu diesem Abschnitt falsch ist! Das Disneyland liegt zwar vielleicht in Frankreich, vermeidet aber gewissenhaft, auch nur ansatzweise französisch zu sein. Letztendlich verbrachten wir also zwei anstrengende Tage in einer Miniausgabe der U.S.A. bevor wir dann endlich wieder nach Hause flogen, natürlich in den Regen.

Und weil es immer noch regnet, habe ich heute endlich Zeit, den Bericht zu beenden und ein paar Fotos dazu herauszusuchen. Hat alles auch seine guten Seiten...

Cheers,
Jan

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