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Die Nord-West-Passage

Zu Fuß

Wir sind endlich umgezogen!

Das Haus in Sale, so schön es von außen aussah, war von innen eine fürchterlich geschmacklose Angelegenheit, weswegen wir da jetzt nicht mehr wohnen. Wer will schon ein Baby auf einem zwanzig Jahre alten, braunen, langhaarigen Teppich krabbeln lassen?

Das Baby war aber nicht der einzige Grund, und damit hätten wir ja auch noch bis März Zeit gehabt; die doch recht große Straße hinter dem Haus war auch ziemlich nervig, und dann brachte eine Kollegin von Hyperion eines Tages ein Haus gleich um die Ecke in Heald Green in's Spiel, das zu dem Zeitpunkt noch von einem anderen Kollegen bewohnt war. Wie immer halt: Der Zufall hilft nach.

Jetzt haben wir jedenfalls ein Zimmer mehr, eine ruhige Wohnlage (sofern nicht Nordostwind ist, dann starten nämlich die Flugzeuge in unsere Richtung), angenehme Vermieter, und ich kann zu Fuß zur Arbeit gehen, in nur 20 Minuten. Ein guter Tausch.

Nebel auf dem Bocca di a Battaglia, Korsika

Heute morgen z.B. habe ich vor lauter Freude den Amundsen gemacht und mich auf die Suche nach der Nord-West-Passage begeben. Dazu muß man wissen, daß Heald Green ein völlig verqueres Gewimmel von Häusern, Gärten, Sackgassen und kleinen Durchgängen für Fußgänger ist, was meinen Forschergeist gleich bei meinem ersten Weg zur Arbeit erweckt hat.

Normalerweise folge ich unserer Straße und der anliegenden Sackgasse, schneide dann per Fußweg ab zu einer anderen Sackgasse und folge dann einer relativ großen Straße nach Norden, bis ich an der Hauptstraße von Heald Green ankomme, die in Nord-Süd-Richtung verlaufende Bahntrasse gen Westen überquere und dann wieder nach Süden zum Greencourts Business Park (quasi zurück-) gehe.

Nun gibt es aber etwa eine halbe Meile südlich der Hauptstraße eine weitere Brücke über die Eisenbahnstrecke, die nur für Fußgänger begehbar ist und im Westen direkt zum Greencourts Business Park führt, also genau vor die Tür. Sie liegt auch ziemlich genau in der Luftlinie zwischen Haus und Arbeit. Sowas will genutzt werden! Ich mußte also nur die Verbindung zu meiner großen Straße finden.

"Polarforschung ist eine Sache für Profis", das weiß jedes Kind. Und mein Vorbild Roald Amundsen war einer, der sich immer gewissenhaft vorbereitete, bevor er auf eine Expedition ging. Diesem Vorbild wollte ich bestmöglich nacheifern.

A - Z

Hier im Königreich gibt es Stadtpläne im Taschenbuchformat namens "A-Z". Die sind wirklich praktisch, wenn man sich noch nicht auskennt, und wir benutzen unsere beiden ausgiebig. "A-Z" ist hier das, was für mich früher der Falk-Plan war. Es gibt das "A-Z" übrigens in vielen Formaten, von Shell-Atlas bis Pocket, Spiralgebunden oder geleimt, für jeden Geschmack sozusagen.

Doch zurück zu Amundsen, meinem Vorbild.

Ich beobachtete zwei Wochen lang jeden Morgen die Umgebung, während ich zur Arbeit lief. Ich hatte da so einen Verdacht, es könne zwischen dem Pfad von der Fußgängerbrücke zum Bahnhof im Westen und der Straße im Osten eventuell eine Verbindung geben, auch wenn "A-Z" an der Stelle nur "Fußballfeld" ("Recreation Ground") kannte.

Ein altes englisches Sprichwort sagt "never try to walk over a football pitch when it's wet (i.e. between August and May), except when it's frozen", zu deutsch etwa "gehe niemals über einen nassen Fußballplatz, außer er ist gefroren". Jeden Morgen sah ich mir also das Fußballfeld sehr genau an, ob es wohl naß sei. Und ja, es war naß. So naß, daß ich nichtmal ausprobieren mußte, ob es matschig wäre; das konnte man sehr gut sehen. Demgemäß wartete ich auf eine klare, kalte Nacht und eine ordentliche Prise Frost.

November an der Côte d'Azur kann stürmisch sein...

Am Morgen des großen Tages (die Nacht war klar gewesen und sogar im Zimmer kalt) stand ich voller Tatendrang extra früh auf, duschte ganz schnell, löffelte voller Vorfreude meine Cocoshreddies weg und stand dann unerwartet vor meinem ersten größeren Problem: Meine Wanderschuhe, im Juli 2003 noch treue Begleiter auf der längsten Bergtour meines Lebens, wollten mir heute nicht passen und taten weh!

Ein Fehler!

Fatalerweise entschloß ich mich, normale Schuhe anzuziehen. Hätte Amundsen damals sein Arktis-taugliches Schiff gegen ein "normales" ausgetauscht, hätte er niemals die Passage bezwungen! Aber ich bin ja auch nicht Amundsen. Da ich aber, wie schon gesagt, voller Tatendrang war, und weil mich die Nord-West-Passage nun schon eine geraume Zeit beschäftigt hatte, tat ich diese Improvisation als kleineres Problem ab.

Ich trat vor die Tür, zog meinen Kragen hoch, die Mütze tief in's Gesicht und die Handschuhe bis über die Ärmel, denn es war arschkalt. Dann stapfte ich los.

5 Minuten später stand ich am Rande des Fußballfeldes. So richtig trocken sah es nicht aus. Nee. Hm... Direkt am Rand stand Wasser in den Fußspuren der Hundehalter. Dahinter ging das Feld leicht hoch, und in etwa 100m Entfernung liefen ein Hund und sein Halter aufgedreht Stöcken hinterher.

Ich beschloß, die Passage zu wagen.

Die ersten zwei Meter waren am schlimmsten. Dachte ich zumindest. Der Matsch wollte mir in die Schuhe schwappen, und ein wenig glitschig war er auch. Ich stakte schnell durch die Matschpfützen, um auf's höher gelegene, trockene Gras zu kommen.

Dummerweise war das Gras zwar wirklich höher, und sah auch weniger matschig aus, es war aber nur weniger naß. Wo ich festen Boden vermutet hatte, erwartete mich eine zähe Masse, die mir die Schuhe ausziehen wollte.

Abkürzungen

Während der Überquerung - oder besser Durchquerung - des Fußballplatzes überprüfte ich diverse Theorien, was den Zusammenhang zwischen Aussehen des Bodens und Matschcharakteristik anging.

Erst dachte ich, tiefes Gras sei ein Zeichen für weniger ausgelatschte Teile des Platzes. Keine Ahnung, ob das stimmt oder nicht, aber weniger sumpfig waren sie jedenfalls nicht.

Dann probierte ich es mit den erkennbaren Pfaden, von denen einer genau in meine Richtung verlief. Der war zwar stellenweise tatsächlich fast hart, aber an anderen Stellen so dermaßen fies morastig, daß ich von ihm abließ.

Die letzte Theorie war ein Kind der Verzweiflung: Laub am Boden verteilt vielleicht das Gewicht der Schuhe... das stimmte zwar nicht, aber immerhin war das Laub hinterher relativ einfach wieder von den Schuhen zu entfernen, im Gegensatz zum Matsch, der sich in meinem Profil und auf Teilen der Hosenbeine häuslich eingerichtet hatte.

Sonnenuntergang in den Bergen nördlich von Nice

Kurz vor dem Ende des Platzes kam das große Finale: Ein Durchlaß in einer Hecke führte zu meinem Ziel, dem Pfad. Der Durchlaß war leider eine einzige, große Pfütze. Während ich mir überlegte, wie ich da wohl durchkommen könnte, kam von links aus einer kleinen Gasse ein Hund und ich entdeckte, daß ich mir den ganzen, blöden Fußballplatz hätte sparen können, denn der Pfad führte direkt zu einer Parallelstraße und war auch noch gut gepflastert. ARGH!

Bei der Arbeit passe ich nachher den ganzen Tag lang auf, daß ich nicht zu viel durch's Büro laufe, denn meine Schuhe sind noch immer matschig, und meine Hose ist unter dem Schreibtisch weit besser aufgehoben als im Blickfeld irgendwelcher Kollegen... das Reinigungspersonal sieht das wohl ähnlich, es weigert sich drei Tage lang, die Erdklumpen und -Krümel unter meinem Schreibtisch zu entfernen.

Auf dem Rückweg nehme ich übrigens nicht den kleinen Weg, den ich ab jetzt die "Nord-West-Passage (weniger matschig)" nennen werde, sondern ich probiere, noch schnell die Süd-West-Passage zu finden, lande dann aber wieder auf einem Fußballplatz (davon gibt es im Königreich so viele wie bei uns Telefonzellen!) und komme am Ende leicht angenervt und saudreckig nach Hause.

So dreckig, daß Souad mir verbietet, in's Haus zu kommen, solange ich nicht Schuhe und Hose ausziehe.

Und selbst das tut ihr wenig später leid, denn sogar meine Socken hinterlassen fiese Spuren auf dem Teppich.

Aber so ist das halt. Wir Männer sind eben Entdecker. Und Entdecker kommen auch mal dreckig nach Hause. Soll sie doch froh sein, daß ich nicht Höhlenforscher bin!

Winter

Seit drei Wochen hat sich meine Vorhersage vom Mai bestätigt: Es wird den ganzen Sommer lang regnen, und im Winter wird's klar, kalt und sonnig. Na gut, sonnig ist übertrieben. Meistens ist es bedeckt, und selbst wenn die Sonne da ist, steht sie doch so tief, daß man sie kaum hinter den Häusern sieht.

Und es ist auch nicht kalt genug für knackigen Frost, das Fußballfeld ist also immer noch matschig. Zur Zeit nehme ich also den alten Weg entlang der Straße, wenn ich zur Arbeit gehe. Auf dem Rückweg hingegen nehme ich die Nord-West-Passage, trotz Matschloch an der Hecke. Und so hat sich die Entdeckung der Nord-West-Passage doch gelohnt. So ähnlich wird Amundsen gedacht haben, als er vor über 100 Jahren in San Francisco unter Jubel in den Hafen einlief.

Die englische Art Weihnachten zu feiern ist übrigens ziemlich identisch mit dem, was man in Deutschland so macht. Überall bunter Blinkekrams in den Fenstern, riesige Girlanden an den Bäumen, sprechende Weihnachtsbäume in den Einkaufszentren, Schokolade, Kuchen, Tee, Kerzen, und Einkaufen bis der Arzt kommt.

Nach 5 Jahren im Mittelmeerexil tut mir das mal wieder richtig gut.

Frohe Weihnachten!
Jan

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