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"Französischer Freitag"

Bonsoir!

Da Hyperion ja nun Oracle ist, und da Oracle gleich um die Ecke ein schönes, großes Büro hat, wurde der 19. Oktober auserkoren als der Tag, an dem wir alle in das andere Büro umziehen würden. Wir durften uns im neuen Büro einen Platz aussuchen, dann mussten wir alle unsere Sachen in große Kisten packen und die Rechner mit Schildern bekleben, auf denen unser Name und die Nummer unseres neuen Platzes stand (ich bin Nummer 103).

Um halb 12 versammelten sich fast alle unten am Empfang, um den drei Männern von der Sicherheit ein Geschenk zu überreichen, für das vorher gesammelt worden war (GBP60 für die drei zusammen). Die Sicherheit gehört ja nun nicht zu Hyperion, sondern zum Greencourts Business Park, und so werden wir die drei wahrscheinlich nie wieder sehen. Irgendwer hatte beschlossen, den dreien ein digitales Radio zu kaufen, damit sie in ihrer Hütte an der Einfahrt wenigstens Musik hören können. Eine ergreifende Szene.

Im UK sind Renten nicht so wirklich berauschend, und deswegen arbeiten viele eigentlich schon pensionierte Männer "nebenher" weiter, weil sonst das Geld nicht reicht. Beliebte Berufe dafür sind Parkplatzanweiser und -aufpasser, Grüßaugust beim Supermarkt, und eben Sicherheitspersonal. Unsere drei Jungs müssen alle so um die 70 sein.

Wenn man den ganzen Tag in so einer Blechhütte an der Einfahrt sitzen muß, langweilt man sich sicher zu Tode, daher ist den dreien jedes Schwätzchen mehr als willkommen, und so kommt es, daß wir sie alle recht gut kennen. Ich persönlich hatte eine kleine "wer gewinnt mehr/öfter im Lotto" Rivalität mit den dreien laufen, die ziemlich genau unentschieden ausgegangen sein dürfte. 0:0.

Möbel! Frische Möbel!

Schon vor zwei Wochen ging das Gerücht, das Mobiliar aus dem alten Büro werde komplett weggeworfen, da Oracle wegen der vielen Übernahmen keinen Bedarf mehr habe für weitere 150 Tische, 200 Stühle, 20 Schränke, 250 rollende Schubladen, 35 Whiteboards, und so weiter. Man solle nur den Facilities Manager anrufen, einen Mann namens Richard, und der gebe dann die Erlaubnis.

Da ich ja nun ab Januar zuhause arbeiten werde (dazu mehr wenn es soweit ist), fragte ich also, ob ich meinen Schreibtisch und die rollenden Schubladen mitnehmen könne. Die Antwort war: "ja, klar, mach nur".

Ich war natürlich nicht der einzige, der was mitnehmen wollte. Eine meiner Kolleginnen wollte einen Stahlschrank, und eine andere ebenfalls einen Schreibtisch. Auch die beiden bekamen grünes Licht.

Sowas spricht sich rum, und am Donnerstag war es soweit, daß praktisch jeder irgendwas vorgemerkt hatte, meist die rollenden Schubladen oder ein Regal. Bis dahin waren nur vereinzelt Post-Its auf Möbelstücken aufgetaucht mit Namen der zukünftigen Besitzer.

Am Freitag dann ging ebenjener Richard durch's Gebäude, wohl um sich die Gesamtsituation anzusehen, bzw. ob alle ordentlich eingepackt hätten. Bei dem Rundgang verbreitete er weiter die "nimm das ruhig mit" Stimmung. Das Büro sah zu dem Zeitpunkt aus wie ein Schlachtfeld: Überall halbvolle Kisten und Stapel aus Müllsäcken und zu schredderndem Papier.

Die 80er

So gegen halb 5 brach dann das Eis. Irgendwer aus dem Essbase-Team brachte seine Schubladen und ein Whiteboard zum Auto. Zwei meiner Kollegen bunkerten schnell die Barhocker aus der Küche, und wenige Minuten später waren überall zerlegte Möbel und Haufen "Beute" zu sehen. Auch ich beschloß, den vorher auserkorenen Schreibtisch jetzt zu zerlegen.

Das Zerlegen stellte ich als sehr einfach heraus, und weil's so einfach war, zerlegte ich noch einen zweiten Schreibtisch. Die Dinger sind asymmetrisch, und woher soll ich denn jetzt schon wissen, welche Richtung ich später brauchen werde? Vielleicht ziehen wir ja mal um?

Anyway, die ganze Geschichte entwickelte sich zu einer ausgewachsenen Plünderungsszene, wie man sie in einem 80er-Jahre Film erwarten würde.

Überall lungerten Kollegen herum, inspizierten Objekte und lugten in Räume, die sonst niemand benutzt. Binnen kürzester Zeit waren große Teile des Mobiliars einfach verschwunden. Aus der Küche zum Beispiel verschwanden alle Stühle und ein Tisch. Angeblich sollen Leute sogar Gläser mitgenommen haben. Schöne Pintgläser waren das.

Irgendwie fühlte sich die Situation jedenfalls seltsam an. In dem erwähnten 80er-Jahre Film hätten wir als nächstes brandschatzen und vergewaltigen müssen (selbstredend bei Nacht und im Regen und mit einem hektisch gespielten Saxophonsolo im Hintergrund. Kurz darauf wechselt die Musik: Trommeln. Dazu sieht man Panzer auffahren und man hört Befehle durch die Nacht gellen. Eine Tankstelle geht in Flammen auf und die Statisten rennen panisch hin und her. So einen Film meine ich.); die Situation war ziemlich intensiv, fast ein bißchen zwanghaft.

Und auf der anderen Seite kam ich mir absolut normal vor.

Später telefoniere ich mit Souad. Ich erzähle ihr von den Plünderungsszenen und wie mich das Ausmaß der Geschichte doch überrascht hat, und sie sagt nur trocken: "klar, bei Euch arbeiten halt viele Franzosen".

Schon beeindruckend: Nach fast 4 Jahren in England fühle ich mich nachwievor in Frankreich zuhause. Das überrascht mich wirklich! Und es paßt auch gar nicht zu dem Bericht zum Thema von vor 6 Jahren: Zuhause in Frankreich?

Wie ein langsamer Schatten...

Ich schätze, daß der Lebensmittelpunkt (wie die deutsche Amtssprache es nennt) und der Wohlfühl- oder Zuhausefühlmittelpunkt nur bei den Leuten gleich sind, die sehr, sehr lange an einem Ort leben. Denn wenn man umzieht, bleibt der Zuhausefühlmittelpunkt erstmal da wo er ist.

Bis er sich von da zum neuen Lebensmittelpunkt bewegt, braucht es viele Dinge, z.B. neue Freunde oder neue Bezugspunkte. Am wichtigsten scheinen mir aber die Erfahrungen zu sein, oder vielleicht eher der Platz, den sie in unserem Gedächtnis einnehmen; solange meine Erinnerungen an Frankreich noch zahlreicher oder präsenter sind als die aus England, bin ich eben noch nicht hier angekommen. Jedenfalls nicht so richtig.

So gesehen müssten Souad und ich uns eigentlich mal sehr ernsthaft überlegen, was wir uns mit dem Umgeziehe alle paar Jahre eigentlich antun...

Hm. Jetzt allerdings überlege ich erstmal gar nichts, sondern freue mich stattdessen über meinen neuen, großen Schreibtisch, den ich heute unter Strapazen alleine hochgeschleppt und aufgebaut habe, und der einfach fast perfekt in mein kleines Zimmer paßt. Das war klar eine Plünderungsszene wert!

Schönen Tag noch!
Jan

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< Auf Wiedersehen, Oracle!
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