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Im Fastenland

Mahlzeit!

Wie jedes Jahr im Sommer besuchen meine Frauen die Schwiegereltern in Algerien und ich fahre einen Monat später hinterher.

Ramadan 2011 (oder 1432, je nach Kalender) fällt perfekt in die Sommerferien, oder zumindest teilweise. Lilias Schule will uns nicht die Erlaubnis geben, sie eine Woche eher aus der Schule zu nehmen, damit die Frauen ein paar Tage vor Ramadan fliegen können und vielleicht noch ein paar Verwandte treffen, bevor die Fastenzeit alles lahmlegt.

Wir argumentieren, daß Lilia eine ihrer 4 Sprachen vertiefen wird und mehr über eine uns recht fremde Kultur lernen als alle ihre Freunde zusammen, aber die Schule bleibt kalt.

Erst als das Wort "Ramadan" fällt geht plötzlich alles doch: "Religiöse Gründe, sagen Sie das doch gleich!". Das ärgert uns ein wenig, denn darum geht es eigentlich gar nicht so sehr, aber was soll's. So sind die Engländer halt. Aus "religiösen Gründen" kann man seine Kinder zum Beispiel vom Musikunterricht befreien, vom Schwimmen oder auch vom Turnen. Total bekloppt.

Die Frauen fliegen also wie geplant los, ich habe 31 Tage sturmfreie Bude und dann fliege ich hinterher, mitten in die Fastenzeit. Und das geht so:

Langsam

Der typische Tag beginnt so gegen 10. Wir gehen kurz runter an's Meer, höchstens eine Stunde wegen der Sonne. Dann sitzen wir den Nachmittag faul rum während die Kinder nach ihrem Mittagessen fernsehen. Gegen 5 gehen wir nochmal runter, diesmal länger weil die Sonne nicht mehr so knallt und weil es, wenn wir um 7 wieder oben sind bald Essen gibt. Muß man nicht mehr so lange warten.

Nach dem Essen sitzen wir wieder faul rum und die Kinder gucken Tom & Jerry. Wenn alle müde sind futtert man nochmal ordentlich, als Reserve für den nächsten Tag. Manchmal muss man am Nachmittag kurz irendwohin fahren und was einkaufen, aber das tut man so wenig wie möglich, wegen der Hitze.

Und weil das allen so geht ist das Land während Ramadan am Tage extrem ruhig und langsam und das Sozialleben verlagert sich in die Abendstunden und die Nacht.

Damit ist eigentlich über Ramadan in Algerien alles gesagt, aber wer den Scrollbalken rechts aufmerksam verfolgt hat oder mich kennt wird ahnen, daß es mein Mitteilungsdrang dabei nicht belassen kann.

Die Mädchen amüsieren sich im Mittelmeer

Morgens zum Strand

So um 9 bin ich eigentlich fast jeden Tag wach, hauptsächlich weil mir zu warm wird. Wenn man aber erst um halb 8 abends essen wird, ist es extrem verlockend, so lange wie möglich weiter zu dösen. Meistens tue ich das bis etwa 10 Uhr, je nach Druck auf der Blase und Hyperaktivität der Töchter. Einmal schaffe ich es sogar bis 12.

In den ersten 8 Tagen haben wir nur beschränkt Wasser weil irgendwo eine Pumpe kaputtgegangen ist und die Ersatzpumpe noch vom letzten Vorfall kaputt. Mal eben morgens den Nachtschweiß abduschen geht also nicht.

Das Gefühl morgens ist wie damals, als wir nach der Schule mit dem Bus nach Südfrankreich fuhren um dort in Zelten Ferien zu machen. Morgens in einem Zelt aufzuwachen, weil die Sonne scheint und die Temperatur sich Richtung Saune entwickelt ist einfach unangenehm. Sommerferien im Zelt in Südfrankreich. Eine unglaublich dämliche Idee, auf die nur Norddeutsche kommen können.

Also aus dem Bett direkt in die Badehose, T-Shirt drüber, Handtücher einpacken, den Kindern sagen sie sollen ihre Badehosen anziehen, Kappen auf, Sonnenschirm unter den Arm und los. Relativ kühles Meerwasser lockt!

Dann kommt man aus dem Schatten auf die Straße und merkt, daß man für einen solchen Schlag Sonnenschein eigentlich noch nicht wach genug ist. Woah!

Draußen ist es ziemlich still. Kein Vogel zu hören, kein Tier zu sehen und Menschen schon gar nicht. Die sind ja nicht blöd und gehen bei der Hitze raus! Und schon gar nicht im Ramadan.

Wir gehen aus der Siedlung raus und die Straße runter Richtung Parkplatz. Dann biegen wir nach links ab eine kleine Rampe runter bevor wir den Hang runter klettern zum Strand.

Dieser Hang runter zum Strand ist eine Art Momentaufnahme, anhand derer man all die kleinen Dinge zeigen kann, die Algerien schön machen und gleichzeitig tragisch.

Das Mittelmeer hat an dieser Stelle eine relativ steile Küste, etwa 10 bis 15 Meter über dem Wasserspiegel, würde ich sagen. Oben sind Felder und die kleine Siedlung, in der die Großeltern wohnen. Am Hang wächst Schilf, unten ist ein Strand mit grobem Sand, vielleicht 30 Meter breit an der Stelle. Schräg nach Osten liegt in etwa 200m Entfernung ein Felsen im Wasser, schroff und schön. Im Osten sieht man bei guter Sicht Berge, im Westen ein Kap und Ain Taya.

Sonnenuntergang über Ain Taya. Gleich gibt's Essen!

Das ist alles richtig schön und würde jeden Reisekatalog zieren, aber...

Nicht für den Katalog

Auf dem Strand liegt überall Abfall rum. Nicht viel aber genug. Papier, leere Plastikflaschen, Zigarettenschachteln, Kippen, Tüten, alles mögliche. Im Schilf am Hang findet man ganze Tüten voller Müll, dazwischen wieder Flaschen, leere Verpackungen und Tüten, die eine oder andere Bierdose, ein angebrochener Sack Zement, der zu Beton erstarrt ist.

Wenn man den Hang durch's Schilf hochklettert, bemerkt man einen ganz leicht süßlichen, auf jeden Fall unnatürlichen Geruch, der natürlich vom verrottenden Abfall kommt, und daher daß es am Strand kein Klo gibt. Unangenehm.

Unten am Strand findet sich sogar ein größerer Müllhaufen, wo die weniger unbekümmerten Algerier ihren Müll hinwerfen. Ob den irgendwann mal jemand abträgt, weiß ich nicht.

Nun ist es nicht so, als wären hier Gäste am Werk, die nach sich die Sintflut wähnen. Auch die Anwohner aus der Siedlung machen mit. Überall in Algerien werfen Leute ihre Flaschen aus dem Autofenster, lassen ihre leeren Zigarettenschachteln fallen wo sie sind und kümmern sich nicht, wenn ihnen eine leere Tüte wegfliegt. Der Besitzer eines Internetcafés kippt seinen Mülleimer gerne einfach vor seinem Laden auf die Straße.

Das ist alles ungeheuer schade und es war nicht immer so.

Nuss freut sich über die Wellen, im Hintergrund der Hang mit Schilf

Früher

Bevor Extremisten 1995 die Wahlen gewannen und das Militär "zum Schutze des Landes" die Demokratie kippte war Algerien schöner als jede Touristenoase in Tunesien es je sein wird.

Aber ein Jahrzehnt Terror haben Land und Leute mitgenommen. Bis heute fühlen sich die meisten nicht wirklich sicher. Bis heute gibt es Attentate und "faux barages", wo Bewaffnete in Uniform Autos anhalten. Sieht aus wie eine Militärkontrolle, endet aber mit ausgeraubten und oft erschossenen Autofahrern.

Meine Frau kann sich an die Zeit vorher erinnern so wie wir noch wissen, daß es in Berlin mal eine Mauer gab - vage. Eine ganze Generation seitdem ist mit Problemen aufgewachsen, angesichts derer Müll in der Landschaft herzlich egal scheint.

Man kann nur hoffen, daß der eigentlich reiche Staat (Öl und vor allem Gas in der Wüste im Süden in Hülle und Fülle) (Wow, 4 Wörter mit "ü" in einem Satz!) irgendwann mal auf die Idee kommt, das ganze wieder zu retten. Geld genug hätte er sicher.

Vielleicht kann man sogar hoffen, daß die Leute irgendwann wieder zivilisierter mit ihrem Lebensraum umzugehen.

Cheers,
Jan

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